Marina
1
Nichts als Seen und Wälder, seit ich mit dem Mietwagen aus der Stadt raus bin. Die magere Reisetasche auf dem Rücksitz enthält nur das Nötigste, besonders die Laufschuhe, meine treuen Begleiter seit Igor ausgezogen ist.
Igor hat das Grosse Geld gesucht und ich die Grosse Liebe. Sowas geht schlecht zusammen. Aber am Anfang war alles ganz anders. Wir zogen mit Rucksäcken durchs Land, tauchten in jedes Gewässer ein und liebten uns hinter Büschen und Bäumen. Still atmend, in den Anderen hinein horchend. Irgendwann reisten wir nicht mehr. Stattdessen arbeiteten wir: ich im Supermarkt, Igor auf der Bank. Irgendwann begann er sich für andere Frauen zu interessieren. Für jene Hinguckerfrauen mit Mandelaugen und lackierten Nägeln, die zum Inventar der Teppichetagen gehören. Plötzlich hatte er unsere gemeinsamen Erlebnisse vergessen. Das, was uns verbunden hatte, schien nicht mehr zu existieren. Du bist eifersüchtig, sagte er. Nein, protestierte ich, ich bin verletzt. Unsere Streitereien endeten immer damit, dass er die Gitarre hervor nahm und ein Lied spielte. Auf diese Weise blieben wir zusammen bis zu seinem achtundzwanzigsten Geburtstag.
Ausbrüche sind nicht mein Ding, aber Igor hat es geschafft. Auslöser war die Sachertorte, die ich ihm gebacken hatte, sein Lieblingskuchen. Mit einer einzigen Kerze darauf, weil er mein Ein und alles war. Doch er hat bloss die Flamme ausgeblasen, die Gabel zum Mund geführt und nach einer Kaubewegung ein Gesicht gezogen, als hätte er in Dreck gebissen. Zugegeben, die Füllung war ein Stilbruch: Orangenkonfitüre statt Marillenmarmelade. Für mich war das zu viel. Mein Schrei hielt lange an und dann zerschellte sein englisches Porzellan auf dem Küchenboden und seine neuen Anzüge segelten auf die Strasse unter dem Fenster.
Am nächsten Tag war Igor weg und ich habe mit Laufen begonnen. Dem Fluss entlang, über Wiesen und durch den Wald. Tagelang, wochenlang, monatelang bin ich keuchend nach Hause gekommen, habe mich auf dem Sofa zusammengerollt, wie von tausend Nadelstichen durchbohrt. Zeit heilt Wunden, heisst es und allmählich entstand aus irgend einem vergessenen Winkel in mir ein Bild, das wie Balsam wirkte und immer deutlicher vor meinen geschlossenen Augen flimmerte: Ein Haus am Waldrand, windgeblähte Laken an einer Wäscheleine und ein Tisch mit einem Korb voller Zimt-Gebäck. Schliesslich riss ich die Augen auf und buchte einen Flug nach Stockholm.
Nun sitze ich in diesem Auto und freue mich auf ein warmes Essen und ein Bett für die Nacht. Da, am Strassenrand, eine verrostete Zapfsäule und darüber ein Schild mit der Aufschrift Hotel. Ich biege ein und nach ein paar hundert Metern durch den Wald gelange ich an eine Wiese mit einem weiss gestichenen Holzhaus. Dahinter funkelt eine grosse Wasserfläche, ein Schuppen ist zu sehen, Schilf und ein Steg mit einem kleinen Boot daran. Mücken schwärmen vor der untergehenden Sonne und irgendwo stottert ein Specht.
Auf dem Emailschild an der klapprigen Glastür steht «Reception». Ich trete ein und sogleich fliegt ein Dutzend Köpfe in meine Richtung. Die gesamte männliche Bevölkerung dieses verlassenen Waldgebiets scheint sich hier an einem langen Tisch versammelt zu haben. Mit glänzenden Gesichtern feixenden Blicken starren sie mich an. Am liebsten würde ich wieder rauslaufen, doch die Kochgerüche sind stärker und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Da erschallt ein Ruf und die Glotzer rücken ihre Stühle zurecht und setzen ihre brummende Konversation fort. Der Rufer hinter dem Tresen ist gross, dünn und fahl wie das Geschirrtuch über seiner Schulter. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Argwöhnisch beobachtet er seine Gäste, die um den Tisch gedrängt von einer Hinterbacke auf die andere wiegen. Dann sieht er mich an und schickt mich mit einer Kopfbewegung in eine Ecke des Raums. Ich gehorche. Aber was ich dann sehe, erschreckt mich. An einem kleinen Tisch sitzt ein wild aussehender Rotschopf und starrt, das zerfurchte Gesicht zwischen die Fäuste geklemmt, auf das leere Glas vor sich. Als ich mich nähere, schaut er auf und seine grün leuchtenden Augen verfolgen mich, wie der Blick der Medusa.
«Hallo», sage ich. Der Rote schweigt. Ich setze mich und schaue mich von diesem ungemütlichen Posten aus vorsichtig um. Die niederen Fensterbänke sind mit Bouquets aus Farn und Feldblumen geschmückt. Eine Scheibe in den quadratischen Fenstereinteilungen ist mit Sperrholz ersetzt. Über den zerschrammten Lamperien hängen vergilbte Fotos von Schiffen und schnautzbärtigen Männern. Gegenüber dem Tresen blickt ein ausgestopfter Elchkopf in die Ferne. Daneben hängt die Menütafel voller unverständlicher Worte in geschwungener Schrift aus denen eines hervorsticht, das mich aufatmen lässt: «Pappardelle». Den Schmierspuren nach, hat der Schreiber mehrere Anläufe gebraucht.
Pappardelle sind meine Wahl, doch der Mann hinter dem Tresen ist ganz auf den langen Tisch konzentriert. Dann und wann fliegen Wortfetzen zwischen Tisch und Tresen hin und her, wie die Besatzung einer belagerten Burg kommt er mir vor. Dazwischen ist Küchengeklimper zu hören, Fliegengesumm und das Knarren eines Stuhls, wenn einer der Kerls sich nach mir umdreht.
«Wenn du Hunger hast, musst du dich bewegen», raunt mein Tischgenosse und deutet mit dem Kinn zum Wirt. Ich tue was er sagt und gehe hin. Der Wirt nimmt meine Bestellung entgegen und bellt ein kehliges «Parpadel» – oder so ähnlich – durch die offene Tür im Hintergrund.
«Haben sie noch ein Zimmer frei?»
Er zieht ein grosses Buch hervor und knallt es auf die Platte. «Doppelbett mit Frühstück, dreihundert Kronen», sagt er und drückt seinen krummen Finger auf die Stelle, an der ich mich eintragen soll. Ich fühle die Blicke der Männer auf meinem Rücken und ziehe mich mit Buch und Kugelschreiber an meinen Platz zurück.
Plötzlich geht ein Raunen durch den Raum und es wird still. In der Küchentür steht eine grosse, schlanke Frau. Sie trägt ein geblümtes Kleid und hält eine Schüssel im Arm. Geschmeidig und bestimmt wie eine Seiltänzerin geht sie zum langen Tisch. Teller werden herumgereicht, Spaghetti geschöpft und als einer ein lautes Wort sagt, versetzt sie ihm blitzschnell einen Klaps an den Kopf. Mit den Händen in den Hüften wartet sie das gemurmelte Tischgebet ab, dann geht sie in die Küche zurück und die Männer hauen rein.
«Krieg dich wieder ein», beendet der Rote mein Staunen. Ich frage, wo man hier mal kann und er deutet zur Tür neben dem Tresen. Als ich sie wieder geschlossen habe, stehe ich alleine im Flur des Hintereingangs. Die Tür steht offen und für einen Moment denke ich an Flucht, aber dann vernehme ich das friedliche Klappern aus der angelehnten Küchentür und höre den Amselgesang, der vom hellen Garten hereindringt. Die Damentoilette ist reinlich, wird wohl selten besucht. Allerdings ist das Waschbecken mit Wasser bespritzt und ein paar drahtige Haare liegen darin.
Als ich zurück komme, herrscht aufgeräumte Stimmung. Kaum habe ich mich gesetzt, kommt die Frau mit einem dampfenden Teller auf mich zu und setzt ihn vor mich hin, als enthielte er die Kronjuwelen.
«Pappardelle al salmone, machen schön und erhalten jung», sagt sie auf italienisch. Ihre Stimme ist warm und rauh, wie man sie nur im Süden hört. Sie stellt ein dickwandiges Glas Rotwein dazu und als sich unsere Blicke treffen, tut sie etwas, was ich hier zum ersten mal sehe: Sie lächelt. Ein Lächeln, das zum Hinsehen zwingt. Hinsehen, wie sich Fältchen in ihren Mundwinkeln bilden, wie sie mit schräg gestelltem Kopf meinen Eintrag kontrolliert und wie sie das Buch zusammenklappt und mit ihm davon geht, als trüge sie eine heilige Ikone.
«Italienisch, nicht wahr?» Die Frage des Roten löst den Zauber. Ich nicke und er sagt, dass der Wein demnach geniessbar sein müsse. Hungrig grabe ich meine Gabel in die Nudeln. Sie schmecken umwerfend. Ich lächle dem Wirt anerkennend zu, doch der scheint beschlossen zu haben, mich wie Luft zu behandeln.
«Was zum Teufel sucht diese südliche Schönheit hier im Norden?», sagt der Rote. Auch ich frage mich das, doch aus seinem Mund trifft diese Frage eine empfindliche Stelle in mir.
«Liebe», sage ich und es klingt wie Trotz.
Er rümpft die Nase und deutet mit dem Kopf zum Wirt. «Schau doch, wie er träge hinter der Bar hängt, wie er alles Lebendige hasst und totschlagen will, was schön und frei ist. Ich sage dir, der Kerl ist ein eiskalter Jäger und Fischer.»
In mir geht ein Ballon der Entrüstung auf. «Und ein leidenschaftlicher Liebhaber», entfährt es mir.
Der Rote starrt mich an, als wollte er sagen: bist du von Sinnen?
«Und weshalb bitte, ist sie bei ihm?»
«Weil sie keine andere Wahl hat», meint der Rote. «Nach Totgeburt und gescheiterter Ehe ist sie entehrt. Jetzt macht sie das Beste aus ihrem Leben, ein Leben, das im Grunde ebenso tot ist wie... wie... wie der Fisch da in deinem Teller.»
Ich blicke auf meine Pappardelle, die vorzüglich schmecken. «Sie könnte doch anderswo neu anfangen», sage ich, weil ich mir das für sie wünsche.
Doch der Rote macht das schnalzende Geräusch, das jedes Argument vom Tisch fegt und in seinem Mund scheint ein süsses Bonbon zu stecken.
«Demnach kennst du die Leute?»
Er schüttelt den Kopf.
«Wie bitte?»
«Ich weiss mehr als du denkst.»
Was für ein Wichtigtuer! Beinahe hätte ich ihm geglaubt. Für mich steht fest: Wo so gut gekocht wird, können die Menschen unmöglich schlecht sein. Genüsslich fahre ich mit meinen Pappardelle fort und der Rote schaut zu, wie einer, der gelangweilt in den Fernseher glotzt.
«Wie heisst du eigentlich?», sagt er plötzlich.
Mein Mund ist voll und ich zucke mit den Schultern. Zum Glück spricht er weiter, denn ich will ihm meinen Namen, diesen Schlüssel zur Vertrautheit, nicht nennen.
«Ich bin Rob.»
«Und was tust du so?», sage ich schnell, nachdem ich geschluckt habe.
«Dies und das. Hatte mal eine Band, ein Haus, eine Familie, aber das ist vorbei.»
«Schade.»
«Ach was, es ist ein Glück. Frauen reden dauernd von Verantwortung und davon, dass man wieder etwas vergessen hat und mit Hornhaut auf der Seele rumrenne. Ich habe mich losgesagt», sagt er und zieht ein Gesicht, als wollte er auf den Boden spucken.
«Ach, und weshalb glotzt du der Bedienung ständig auf den Hintern?»
Er verdreht die Augen, winkt ab und ruft dem Wirt etwas zu, was dieser in die Küche weitergibt.
Rob mag Frauen hassen, ich dagegen finde Männer wunderbar. Manchmal wünsche ich mir sogar in einem männlichen Körper zu stecken. Beim Laufen geht es mir so. Ich versuche dann einen Stein zu stemmen, mich an einem Ast hochzuziehen oder einen Kiesel siebenmal springen zu lassen. Aber nichts davon gelingt. Meine Glieder fühlen sich nachgiebig an und für sowas nicht geschaffen.
Als die Frau mit einem Teller und einer vereisten Schnapsflasche aus der Küchentür tritt, nimmt der Wirt ihr die Sachen ab und bringt sie persönlich an unseren Tisch. Gierig macht Rob sich über die gebratenen Wursträdchen her, wie ein Mädrescher im Kräutergarten kommt er mir vor. Ich muss an den Steg hinter dem Haus denken und an frisches Wasser das mich umspült und alles Unbehagen wegmacht. Rob prostet mir zu und setzt die Flasche an. Ich leere mein Glas in einem Zug.
«So gefällst Du mir, Mädchen!», ruft er mit tierischem Blick und an seinem Kinn glänzt ein Tropfen Schnaps. Jetzt erst entdecke ich das winzige Tattoo auf dem Ellenknöchel seiner linken Hand. Ein Rotkehlchen. Wie dieses zarte Wesen da wohl gelandet ist? Der Rotwein hat mich geschmeidig gemacht und ich muss mich zusammen nehmen, um den Vogel nicht zu berühren.
Plötzlich steht die Frau wieder da, mit einem neuen Glas in der Hand, diesmal kein dickwandiges, sondern ein eleganter Kelch. «Riserva, ist offeriert», sagt sie und ihre Stimme verwandelt mich augenblicklich in einen Seismografen, der alles an ihr registriert, selbst das Geräusch ihres Kleides.
«Danke», erwidere ich. Meine Zunge schleppt, aber mir doch egal, vor dieser Frau will ich nichts verbergen.
«Ich liebe die Frauen!», raunt Rob mir ins Ohr.
Das ist mein Zeichen zum Aufbruch. Ich stehe auf. Er versucht mich aufzuhalten, aber ich weiche seiner Hand aus. «Ciao», sage ich bestimmt, worauf er seinen Kopf zwischen die Fäuste rammt und «italienischer Scheiss» brummt.
2
Mit feuchtem Haar und ins Frottiertuch gehüllt, stehe ich am offenen Fenster. Wasser und Seife haben Schwips und Aufregung weggespült. Ein leichtes Beben ist geblieben. Bin ich in eine Frau verlieb? Zu Hause wäre ich über mich selbst erschrocken, hier in der Fremde fühlt es sich richtig an. Mit meinem Weinkelch in der Hand ist sie vor mir die Treppe hochgestiegen. Sie hat das Glas auf den Nachttisch gestellt, hat das Fenster geöffnet und den Strauss Feldblumen auf der Kommode geordnet. Sorgfältig, wie sie mein Essen hingestellt hat, eine Art, die alles was sie berührt kostbar macht.
Gefällt dir das Zimmer?, hat sie mit ihrem singenden Akzent gefragt. Natürlich gefällt es mir, es trägt ihre Handschrift. Ich habe nur stumm genickt, aus Scham, weil meine Sprache nicht singen kann. Dann bin ich ihr nach unten gefolgt, um die Reisetasche aus dem Wagen zu holen, und als sie vor mir in die Küche eingebogen ist, habe ich mich nochmals für den Wein bedankt. Sie hat gesagt, dass ihr Vater ihn macht und, dass wir später ein Glas zusammen trinken könnten, sie werde nach Feierabend bei mir reinschauen.
Wie aus dem Häuschen habe ich die Reisetasche mal hierhin, mal dorthin gestellt, habe meinen Kajal-Stift gesucht, habe meine Haare geöffnet und wieder zusammen genommen. Schliesslich habe ich geduscht. Mit der Hotelseife, die nach Moos und Tannenzweigen riecht und die man scheinbar von einem grossen Block abgetrennt hat.
Jetzt stehe ich am Fenster und schaue in die Nacht hinaus, die den Tag nicht los wird. In der Gaststube unter mir johlen die Männer, eine Tür wird aufgerissen, eine Gestalt stürzt auf die Wiese, torkelt umher, fällt ins Gras und bleibt liegen. Gute Nacht, armer Trunkenbold. Unten kehrt Ruhe ein. Autotüren werden schlagen, Motoren heulen auf, Rücklichter verschwinden im Wald. Schliesslich ist nur noch das Fest der Frösche da. In meinem Ohr löst sich ein Pfropfen Wasser, rinnt warm den Hals entlang und ich erschauere.
Es klopft. Rasch schlüpfe ich in Jeans und Sweater und stürze zu Tür.
3
«Guten Morgen.» Marina kauert neben mir am Bett und hält mir ein Glas Wasser hin. «Gutes schwedisches Wasser», flüstert sie…
(Weiterlesen im PDF)