Die Gardenienzucht


Hotel


Kalter Wind hat den Himmel blank poliert. Vor der offenen Balkontür rauschen die Palmen. Die Abendsonne wirft einen gelben Kegel in den Raum und an der gestreiften Tapete zittern Reflexe vom Lüster. Bergmann liegt im Frottiermantel auf dem Bett, sein Körper summt, der geschwollene Knöchel pulsiert. Ein Riss teilt die Stuckrosette in zwei ungleiche Hälften, sucht seinen Weg und endet als brauner Fleck an der Wand. Das vorhin im Badezimmer geht ihm nicht aus dem Kopf. Er hat sich im Spiegel betrachtet und hat sein graues Gesicht mit Bartstoppeln gesehen und seinen Körper, ausgezehrt, mit grünen und blauen Flecken überall. Er war noch da. Plötzlich hat Claire sich ins Bild gedrängt, glatt und aufrecht, mit kleinen Brüsten, die nach oben zeigen. Fremde Spiegel sind erbarmungslos. Um seinen Anblick zu verbessern, hat er die Ränder des Lavabos gepackt und die Muskeln angespannt. Claire hat aufgelacht und mit zurückgelegtem Kopf ihren jugendlichen Zahnkranz präsentiert. Abrupt hat er sich vom Trugbild abgewandt und in der Kulturtasche nach dem Rasierzeug gewühlt. Er will doch nichts von ihr, sie war es doch, die einfach bei ihm eingestiegen ist, sie war es doch, die sich ihm aufgedrängt hat. Mist, Rasierzeug vergessen. Resigniert ist er aus dem Bad gehinkt, hat sich aufs Bett fallen lassen und hat den überstürzten Aufbruch am Morgen verflucht.

    Es klopft. Er rafft sich auf und patscht zur Tür mit der hohen Messingklinke. Der Hoteldiener streckt ihm eine Schale Pfirsiche hin. 

«Ein Gast schickt ihnen das hier. Es sind die letzten.» 

«Die letzten?» 

«Pfirsiche, dieses Jahr.»

Bergmann schiebt die Tür mit der Schulter ins Schloss. Ein Unbekannter kündet sich an. Er stellt die Früchte auf das dünnbeinige Tischchen am Fenster und lässt sich zurück in die Bettkule fallen. Er hasst Pfirsiche. Und er will jetzt niemanden sehen. Er will in Ruhe nachdenken, zu Hause gelingt das nie, jedes Mal ist der Wein schneller mit seinem Vergessen. Flaumiger Schein umgibt die Früchte am Fenster. Mutter hatte sie gemocht, immer waren welche da. Sie hatte sich schöne Haut davon versprochen. So ein Unsinn. Er dreht den Kopf zur Seite und betrachtet das Ensemble von Sessel, Schirmlampe und Sekretär mit Nelken. Dann dreht er den Kopf zur anderen Seite. Im gelben Lichtkegel schweben Staubpartikel, getrieben von geheimnisvollen Strömungen. Sein Magen knurrt. Auf wann hat der Concierge das Abendessen angekündigt? Er weiss er nicht mehr, wie so manches in letzter Zeit. Er hat wohl nicht recht hingehört. Ich verfalle, denkt er und nicht zum ersten Mal beschleicht ihn die Vorstellung dement zu werden. Er sieht sich mit leerem Blick dasitzen, eine karierte Decke auf den Knien, ein Speichelfaden am offenen Mund. Man müsste sich bei Zeiten selbst ein Ende setzen. Im Abendanzug mit der geladenen Pistole ins eigenhändig gegraben Loch steigen, ein heller Knall, ein weisses Räuchlein und die ganze Sauce flösse direkt in den Boden. Etwas Hirnflüssigkeit würde vom weissen Hemdkragen aufgesogen, der Rest bliebe schön beisammen, Staub zu Staub. Eine saubere Sache. Allerdings müsste jemand das Loch anschliessend wieder zuschaufeln. Jemand ohne Skrupel müsste es sein. Ein Fremder. Er würde ihn gut bezahlen, aber konnte er sicher sein, dass der nicht einfach das Geld nehmen und auf die Mühe mit der Schaufel verzichten würde? Die Menschen haben ja heutzutage keine Ehre mehr. Nicht zum ersten Mal gehen Bergmanns Gedanken bis hierhin und nicht weiter. Der Plan hinkt wie er selbst. Er gibt sich einen Ruck: Zeit für ein Glas Champagner.

          Vom Durcheinander im Koffer ist der Abendanzug zerknittert. Und wo ist die Fliege? Unrasiert, im Abendanzug ohne Fliege steht er vor dem Spiegel. Aber wenigstens – er holt eine Nelke vom Sekretär – eine Blume im Knopfloch. Er steckt ein frisches Taschentuch in die linke, das gewohnte Bündel Banknoten in die rechte Hosentasche und verlässt den Raum. 


Man wolle sich um Rasierzeug für ihn kümmern, sagt der Concierge. 

«Wann?»

«Morgen.»

Bergmann winkt ab. Früher war alles anders. Damals stand die Halle voller Pflanzen. Runde Sitzinseln aus dunkelgrünem Samt umschlossen den Fuss der Säulen. Als Knabe hatte er stundenlang darauf gelegen und die Deckengemälde von Odysseus' Reise betrachten. Manchmal verirrten sich Vögel und Schmetterlinge durch die Luken des Oberlichts herein. Dann war es wie in einem tropischen Wald. Heute ist alles weiss gestrichen. Lederfauteuls und Rauchglastischchen stehen herum und statt der Drehtür mit den Musselinscheiben summt jetzt eine Schiebetür hin und her. 

        Im Speisesaal bittet man ihn zum Apero auf die Terrasse. Die Küche sei noch nicht soweit, sagt der Ober und begleitet ihn auf die hölzerne Plattform hinaus, wo Gäste in Shorts und Turnschuhen das Häppchen-Buffett umlagern. Hühnerhaut sträubt sich auf ihren Schenkeln. Ein Kellner füllt eine Batterie Sektgläser und Bergmann bedient sich. Er betritt den Rasen, lässt das leere Glas auf einem der gusseisernen Stühle zurück, die da und dort herumstehen und geht weiter durch die violetten Bänder der Palmschatten, bis dort, wo der Boden sandig und von Heidekraut überwuchert, zum Meer hin abfällt. Er setzt sich auf einen einsamen Stuhl unter einer Palme, in dem noch immer die Wärme des Tages brütet. In den nahen Azaleen sirren Insekten, weiter unten leckt das Meer in grossem Bogen den Strand. Jeder Zungenschlag hinterlässt ein dunkles Band im Sand, aus dem spitze Schatten von Muscheln und Kiesel ragen. Die Sonne steht tief und der ferne Leuchtturm ist ein schwarzer Pfahl. 


Reise


Das Lenkrad fest in den Fäusten, ist er in den Morgennebel getaucht. Haus, Garten, Gittertor, alles ist im Rückspiegel verblichen. Mit tastenden Scheinwerfern ist er durch die Stadt und auf die Landstrasse gekrochen und hat sich mit wattierten Sinnen auf die zuckende Mittellinie konzentriert, bis ihn das Warnlicht der Benzinanzeige zurückgeholt hat.

        Er stoppt an den Zapfsäulen. Ein Bursche in lottrigem Overall tänzelt heran. Aus seinem Kopf spriessen weisse Kabel. Er grinst und hält den Handrücken unters Kinn, was Bergmann als Frage nach dem Füllstand des Tanks deutet und nickt. Während der junge Mann den Benzinschlauch ansetzt, steigt er aus und steuert die Kaffeebar an. Aber dann sieht er die verschmierten Scheiben und macht kehrt.  

«Nehmen sie mich südwärts mit?»

Er dreht sich um. Vor ihm steht eine junge Frau. Ihr direkter Blick hält ihn davon ab, ihren Körper zu taxieren. Südwärts? Er hat kein bestimmtes Ziel, er ist einfach losgefahren mit flüchtig gepacktem Koffer. Er hört den Tankwart rufen, ob er das Öl kontrollieren soll. Sein «Ja» klingt schwach und er reicht ein zweites nach. Der Bursche öffnet die Motorhaube und die junge Frau geht zu seinem Auto.

«Wohin genau fahren sie?» Die junge Frau drückt vergnügt ihre Reistetasche vor den Beifahrersitz.  

«Da, geradeaus», sagt Bergmann und lässt den Arm in unbestimmter Richtung fallen. 

«Prima, genau da will ich auch hin.» Lachend schlüpft sie ihrer Tasche hinterher. 

Der Tankwart grinst vielsagend. Bloss weg hier, denkt Bergmann, drückt ihm einen Geldschein in die Hand und startet den Motor. Er tritt so heftig aufs Pedal, dass sein verletzter Knöchel aufschreit, während der Wagen ins grosse Weiss hinausschiesst. Die junge Frau gurtet sich an. 

«Dem haben Sie aber reichlich Trinkgeld dagelassen. Mann, hat der gestrahlt.»

Bergmann presst die Lippen zusammen. Nach einer Weile sagt sie: «Sie können gern schweigen bis zum Ende von geradeaus, aber ich warne sie, ich werde das nicht schaffen.»

Sie öffnet ihr Haar, wie eine Frau, die es sich bequem macht und drückt das Sitzpolster. «Geile Ausstattung, ich kenne jemanden mit einen ähnlichen Schlitten, natürlich nicht so fein wie der hier.»

Sie holt eine blaue Zigarettenschachtel hervor und steckt sich eines der Stäbchen an. 

«Zum Glück haben wir beide das selbe Ziel», sagt sie und hält ihm die Schachtel unter die Nase. «Mögen sie auch?»

Ein paar Aschepartikel wehen auf seine Seite. Geile Einrichtung, das selbe Ziel. Vonwegen! Südwärts ist doch kein Ziel, bestenfalls eine Richtung. Oder immerhin eine Richtung. Er dagegen ist orientierungslos gestartet. Na und? Ich kann tun und lassen was ich will, denkt er und alles was er jetzt will, ist diese Passagierin loswerden. 

Sie drückt den Knopf fürs Fenster, stippt die Glut in den Fahrtwind und schiebt das angerauchte Stäbchen zurück ins Päcklein. 

«Filterlos, haben Seltenheitswert, ich dachte sie stehen auf sowas», sagt sie und klaubt ein paar Tabakkrümel von der Zunge.

«Hören sie, ich muss bei der nächsten Ortschaft abbiegen», sagt er.

«Kein Problem, wenn sie noch was erledigen müssen, ich habe keine Eile», sagt sie und dann sagt sie: «Tut mir leid, wenn ich nerve. Ich bin ja dankbar, dass sie mich mitnehmen, aber was stellen sie sich eingentlich vor? Autostoppen ist heutzutage nicht mehr so einfach, wie zu ihrer Zeit.»

«Sie waren wohl dabei, zu meiner Zeit. Übrigens ist noch immer meine Zeit.»

«Sie wissen schon was ich meine.»

«Junge Dame, erzählen sie mir nicht, dass sie jemals lange warten müssten.»

«Ich sitze nicht bei jedem rein.»

«Klar, sie wählen ihr Opfer gezielt.»

Die junge Frau stockt. Leise aber bestimmt sagt sie: «Sie sind ja verrückt.» 

Er sieht ihre abgewetzte Jeans, die schmutzigen Turnschuhe und die ungeschickt eingebügelten Fältchen in ihrer Bluse. «Sie sind ja verrückt», sitzt noch in seinem Kopf und nach einer Weile entgegnet er: «Das habe ich auch schon gedacht.»


Der Wagen durchstösst den Nebel wie der Panther den Papierring. Das gerade Band der Landstrasse hebt und senkt sich vor der Motorhaube. Manchmal taucht ein einsamer Schuppen auf, ein paar Kühe, ein unordentliches Gehöft. Die Morgensonne scheint in den Wagen, dessen Inneres an einen englischen Herrenclub erinnert. 

Bergmann sucht ein versöhnliches Thema. 

«Sind sie von zu Hause ausgerissen?»

Bisher hat die junge Frau stumm geradeaus geschaut, jetzt sieht sie ihn an. 

«Wenn sie glauben, sie könnten sich bei meinen Eltern als Retter einschleimen, haben sie sich geschnitten. Ich bin erwachsen, mein Herr.» Sie kramt eine grosse Sonnenbrille aus ihrer Reisetasche und setzt sie so nachdrücklich auf, als müsste sie für immer dort bleiben. 

    Bergmann stoppt an der Grasnarbe, entriegelt das Verdeck und drückt den elektrischen Mechanismus. 

«Frische Luft tut immer gut», sagt er und steigt aus, um die Persenning über den zusammengesunkenen Dachwulst zu knöpfen. 

Plötzlich legt die junge Frau los: «Wenn sie es genau wissen wollen, ich teile mit Freunden eine Altwohnung und komme für mein Leben selber auf. Genügt das?»

«Ja, ja, das genügt», wiegelt Bergmann ab und als er wieder eingestiegen ist, sagte er: «Wo genau wollen sie denn nun hin?»

«Ans Meer.»

«Alle wollen ans Meer. Wollen sie nicht lieber anderswo hin?»

Sie schaut ihn verdutzt an. Er streckt ihr die Hand hin. «Mein Name ist Bergmann», sagt er und als sie sich als «Claire» vorstellt, ergänzt er: «Edouard», was ihm sogleich anbiedernd vorkommt, aber auch befreiend. 

   Claire lacht. «Darauf müssen wir einen kauen, oder sind sie auch Nichtkauer?» Sie holt eine verbeulte Pillendose mit Kaugummi-Dragees hervor. Der Geschmack erinnert ihn an die zuckerbestäubten Nudeln von früher, die man umgebogen in den Mund gesteckt hat und die zu Hause verboten waren. Seine Schwester hat ihm einmal eine solche Nudel in den Mund gesteckt. Sie war damals vielleicht sechs und er zehn Jahre alt. Trotz Höhenangst war er ihr auf eine Eiche im Garten nachgeklettert, weil Grossvater ihm eingeschärft hatte, dass er Mutter und Schwester nie alleine lassen dürfe und sie beschützen müsse. Mit zugekniffenen Augen an den Ast geklammert, auf dem das kleine Mädchen stand, hat er gekaut und nachdem sie eine Weile gekaut hatten, war die Angst verflogen. 

     Jetzt kaut er wieder. Weshalb nicht ein paar Tage am Meer verbringen? Vielleicht steht das Hotel aus seiner Kindheit noch, da könnte er absteigen. Da oder anderswo.

«Dann also ans Meer.» 

Bergmann startet den Motor und Claire macht einen vergnügten Hüpfer. Sie streckt die Hand nach der Musikanlage aus, aber er kommt ihr zuvor. Die ersten Klänge des Klavierkonzerts sind leise und sie macht Anstalten lauter zu drehen, lässt es aber sein.

«Haben sie keine Bedenken, bei Fremden einzusteigen?»

«Ich schaue mir die Leute zuerst an», sagt sie und als er sie daran erinnert, dass sie ihn von hinten angesprochen habe, sagt sie: «Der Hinterkopf verrät alles über einen Menschen.»

Bergmann weiss nichts zu entgegnen. 

«Ich nehme normalerweise keine Anhalter mit», sagt er.

«Könnten Dreck machen, nicht wahr?»

Claire streckt die Arme über sich aus und lässt sie in den Fahrtwind vor und zurück pendeln. 

«Ich mag es, Leuten auf Reisen zu begegnen.»

«Sie mögen oberflächliche Bekanntschaften?»

«Oft erzählen mit die Leute ihr ganzes Leben.»

«Und sie glauben denen? Die können ihnen auftischen, was sie wollen.»

«Na und?»

Wieder weiss Bergmann nichts zu sagen, er sagt nur: «Und was zieht sie in den Süden?»

Sie lacht.

«Jetzt wollen sie sicher, dass ich ihnen mein Leben erzähle, stimmts?»

Bergmann schüttelt den Kopf und denkt, dass es da wohl nicht viel zu erzählen gibt.

«Ich besuche meinen Bruder und helfe ihm mit den Kindern. Er zieht sie alleine gross. Und was suchen sie da unten?»

«Steht alles auf meinem Hinterkopf», sagt er, gespannt auf ihre Reaktion. Doch Claire blickt abwesend aus dem Fenster. 

    Die Strasse führt durch einen Wald. Im senkrecht einfallenden Licht tanzt ein Regen glänzender Reflexe.  

«Ich wette, sie kennen den Grund ihrer Reise nicht», sagt sie plötzlich.

«Sie irren sich, ich bin zur Erholung unterwegs.»

Sie schiebt die Sonnenbrille hoch und studiert sein Profil. 

«Sind sie krank?»

«Herrgott nein!»

«Bloss ein wenig verrückt, nicht wahr?» 

    Sie lassen den Wald hinter sich. In Claires Sonnengläsern ziehen Himmel und Wolken vorüber. Sie hat ihre Tennisschuhe abgestreift und bewegt die nackten Füsse zur Musik. Ihre Zehen erinnern an Synchronschwimmer mit roten Badehauben. Bergmann deutet auf ein Schild am Strassenrand. «Bistro» steht darauf. 

«Hunger?»

«Durst und ich muss mal», sagt sie.

Er biegt in die Feldstrasse ein und nimmt eine Staubfahne ins Schlepp. Der Weg endet bei einem alten Gehöft. Er parkt im Schatten einer Scheune und durch den aufgewühlten Staub gehen sie zum Hauptgebäude, an dessen verwitterten Mauern Brombeersträucher wuchern. Die Luft über den Feldern flimmert und überall zirpen Zikaden.

«Kennen sie diesen Ort?»

«Von früher.»

Über einer Tür mit Muschelvorhang hat jemand das Wort «Bar» gemalt. Claire eilt hinein und Bergmann geht zu den knorrigen Bäumen, die Stühle und Bleichtische beschatten. Er setzt sich und ächzt. Sein Fuss hätte Kühlung vertragen. Früher war dieses Lokal ein Geheimtip für gutes Essen. Jetzt ist keiner da, ausser einer grauen Gestalt im Wintermantel, die mit hängenden Armen und einem Hut auf dem Gesicht in einem Stuhl hängt. Ein lutschender Froschmund ist das einzige Lebenszeichen. Im Gras daneben döst ein Hund und zuckt mit den Ohren, wenn eine Fliege landet. 

    Der Muschelvorhang macht sein Geräusch und Claire tritt ins Freie, gefolgt von einer schwankenden Kellnerin. Sie bestellen Wasser mit Zitrone und zwei belegte Brote zum Mitnehmen. Bergmann sieht der Frau nach, die schwankend davon geht. 

«Sie ist nicht betrunken, es ist eine Krankheit», flüstert Claire. 

«Woher wollen sie das wissen?»

«Sie hat es mir gesagt.»

Claires Profil ist ihm von der Fahrt bekannt. Kindlich, mit klarer Stirn und gerader Nase. Von vorn wirkt sie ganz anders, älter, findet er und muss sich dazu zwingen, sie nicht anzustarren. 

«Was ist mit ihrem Bein?»

«Was soll damit sein?»

«Sie hinken.»

«Verstauchter Knöchel. Nicht der Rede wert.» 

    Die Kellnerin nähert sich mit dem Tablett. Claire erlöst die Frau vom Balance-Akt und bringt das Tablett an den Tisch. Zwischen Wasserflasche und Gläsern kullert eine Zitrone herum, die Brote sind in rosa Servietten geschlagen. Bergmann schenkt ein und schneidet die Zitrone in Stücke. Sie leert ihr Glas ohne abzusetzen. Die Rinnsale an ihren Wangen verdunkeln den Rand der Bluse. Plötzlich erschüttert ein Klopfen den Tisch. Der Hund hat sich angeschlichen und bearbeitet das Tischbein mit Schwanzwedeln. Entzückt streichelt Claire den Hundekopf und flüstert ihm etwas in die ungleichen Ohren, worauf sich das Klopfen verstärkt. 

«Besser waschen sie sich jetzt die Hände», meint Bergmann und deutet mit dem Kopf zur grauen Gestalt, die sich zu regen beginnt. Der Froschmund dehnt sich in alle Richtungen und dann quillt eine unverständliche Tirade aus dem zahnlosen Loch, während die Arme, wie bei einer Marionette, auf und ab gehen. Erst als der Hund zurück trottet, kehrt Ruhe ein. 

«Armer Mensch, raunt Claire.»

«Armer Hund, meinen sie wohl.»

Sie schüttelte den Kopf. «Die Frau braucht ihn. Der Hund dagegen ist frei. Er muss nur traurig aufblicken und schon geben ihm freundliche Menschen Futter.»

Bergmann hätte geschworen, die Gestalt sei ein Mann. Er lässt ein Stück Zitrone in beide Gläser plumpsen und schenkt Claire nach. 

«Mit Tieren kenne ich mich nicht aus», sagt er.

Sie nippt nachdenklich am Glas. 

«Ich liebe Tiere, sie lügen nicht.»

«Unterscheidet ein Tier zwischen Wahrheit und Lüge?»

«Nein. Es kennt nur die Wahrheit.»

«Ach, und was ist mit dem Chamäleon? Lügt es etwa nicht, wenn es die Farbe wechselt?»

«Aber nein», lacht Claire, «es versteckt sich doch nur.»

«Verstecken ist auch eine Art zu lügen.»

Claire verdreht die Augen. 

Bergmann holt Luft: «Wie gesagt, mit Tieren kenne ich mich nicht aus.» 

Er holt einen Geldschein aus der Hosentasche und schaut sich nach der Kellnerin um. Claire zieht den Schein aus seinen Fingern und schiebt ihn unter ihr Glas. Dann steht sie auf. 

    Als sie beim Wagen ankommen, schaut Bergmann zurück. 

«Hoffentlich steckt der Mensch das Geld nicht ein.»

«Jeder braucht mal Glück», sagt Claire und steigt ins Auto.

Bergmann denkt daran, dass er das Wechselgeld wieder verpasst hat, aber das erwähnt er nicht, er sagt nur: «Was haben Sie dem Hund ins Ohr geflüstert?»

Claire schweigt. Auf ihren Knien liegt eines der rosa Pakete, das andere fehlt.


Die Farben der Umgebung haben Ockertöne angenommen. Weinberge und kahle Felder wischen vorüber. Auf handgemalten Schildern werden Melonen und Honig angeboten. Selten mal krümmt sich der Regenbogen einer Bewässerungsfontäne in der Luft. Claire hat sich mit angezogenen Knien über das Brot hergemacht. Vor ihrem Gesicht fuchteln Haarsträhnen.

«Weshalb suchen sie sich keine feste Stelle?», beginnt Bergmann.

«Keine Zeit.»

«Keine Zeit? Aber was tun sie den ganzen Tag?»

«Allerlei. Nachdenken, schreiben, malen. Und gelegentlich ein Job zum Leben.»

«Kunst in Ehren, aber wollen sie denn nichts aus ihrem Leben machen? Ich meine, sie sind noch jung...»

«Ich mache keine Kunst, ich lebe einfach. Und was fangen sie mit ihrem Leben an?»

Bergmann schweigt. Gute Frage, jetzt, wo so vieles sich verändert hat. Schliesslich sagt er: «Projekte.»

Er fühlt ihren Blick und fährt fort: «Na ja, die Dinge, die ich immer schon tun wollte.»

Claire lacht auf: «Was ich will, mache ich sofort, ich verschiebe nichts auf später.»

«Bei gewissen Dingen müssen die eigenen Wünsche hinten anstehen. Das Leben hat auch unangenehme Seiten.»

«Unangenehme Seiten? Da käme ich mir wie ein Sklave vor», sagt sie.

«Unsinn. Manchmal erkennt man den Sinn einer Sache erst später. Und dann ist man froh, es getan zu haben. Sehen sie, früher waren mir Firma und Familie wichtig...»

«Und heute?», fällt sie ihm ins Wort.

Weshalb hat er sich bloss auf dieses Gespräch eingelassen? Er möchte das Thema beenden und sagt ungeduldig: «Macht es mich etwa zum Sklaven, dass ich sie mitgenommen habe?»

Sie lächelt.

«Sie denken wohl, ich sei ihrem Charme erlegen oder hätte es für mich selbst getan, für mein Ego oder so?»

«Nein, das denke ich nicht», Claire runzelt die Stirn, «ich frage mich bloss, welchen Sinn sie in unserer oberflächlichen Bekanntschaft sehen werden.»

«Schauen sie Claire», sagt er etwas flehend, «zum Beispiel mein Studium. Es hat nicht sonderlich Spass gemacht, aber später hat es mir viel genützt.»

Sie richtet sich interessiert auf. «Wenn sie hätten wählen können, welchen Beruf hätten sie am liebsten gewählt?»

«Ich habe mich für diesen Weg entschieden. Jemand wie sie kann sowas nicht verstehen.»

«Sie haben recht. Jemand wie ich kann nicht verstehen, wie man sich für etwas entscheiden kann, was man nicht mag. Ihr Leben geht mich nichts an, aber ich habe das Gefühl, dass sie im Grunde nicht wissen, was sie wirklich wollen.»

Bergmann schnaubt resigniert. «Los, geben sie mir einen Kaugummi.»

«Nicht lieber einen Bissen davon?» Sie streckt ihm das Brot hin. 

Er winkt ab und sie holt die Pillendose hevor.

«Ihr Bruder, was ist mit ihm?» Bergmann klingt ärgerlich.

«Er ist Zirkusartist und präsentiert eine Maharadscha-Nummer mit Ponies und einem kleinen Elefanten.»

«Und die Kinder?»

«Leben bei ihm. Er lehrt sie alles, was sie brauchen. Manchmal schicken sie mir gemalte Geschichten mit Tieren und so.»

Sie nestelt einen Anhänger aus ihrer Bluse. 

«Was ist das? Löwenkralle?»

«Zirkustiger.»

Sie streckt den Kopf seitlich in den Fahrtwind und stochert mit dem kleinen Finger in den Zähnen.  

«Das Leben ihres Bruders gefällt ihnen, nicht wahr?»

Sie reagierte nicht und als er die Frage wiederholt, nickt sie.

«Wie lange macht er das schon?»

«Was?»

«Im Zirkus leben.»

«Schon immer.»

«Unerhört, dass die Mutter ihre Kinder verlassen hat.» 

«Haben sie Kinder, Edouard?»

«Nein.»

«Dachte ich mir.»


Die Landschaft hat sich geweitet. Zwischen Himmel und Erde liegt feiner Dunst. Claire ist mit angezogenen Knien eingenickt, ein Menschenbündel in zerschlissener Jeans und zerknitterten Bluse. Wie kann man bloss in dieser Stellung einschlafen? Die Sonnenbrille droht von ihrem Kopf zu fallen und er nimmt sie ihr ab. Ein Ortsschild taucht auf. An der Kreuzung, wo die Hügelstrasse zum Hotel abgeht hält er den Wagen an und stellt den Motor ab. 

«Wir sind da.»

Claire reibt sich die Augen. 

«Denken sie, dass etwas in Erfüllung geht, wenn man fest genug daran glaubt?», sie klingt wie jemand, der sich wage an einen Traum erinnert. 

«Das Leben beeinflusst man mit Handeln. Aber manchmal bleibt es trotzdem ein Albtraum.»

Sie zuckt mit den Schultern und gähnt. 

    Sein Angebot, sie in die nächste Ortschaft zu fahren, lehnt sie ab, er habe genug für sie getan, sagt sie, nimmt das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und steigt aus. 

«Danke, war interessant mit ihnen zu plaudern», sagt sie und schwingt ihre Tasche über die Schulter. 

«Dann, adieu.» 

Bergmann sieht zu, wie sie mit schwingendem Perdeschwanz davon geht. Ein Kabinenroller knattert vorüber. Auf der Ladebrücke wackeln Kisten und Körbe. Abgase und Staub wirbeln durch die Luft und als die Wolke sich legt, ist Clair verschwunden und das Motorengeräusch vom Wind verschluckt. 

    Seine Lippen schmecken salzig. Er klettert aus dem Wagen und geht zur nahen Klippe. Vor ihm liegt weites Blau. In der Tiefe umlagert eine Handvoll weisser Häuser einen winzigen Hafen. Ein Pinienwald streckt seine Zunge in den Ort und verliert sich zwischen gelben Dächern. Er schaut zurück. Dort wo er herkommt, vermischen sich Sträucher, Geröll und windgeduckte Korkeichen zu einem gräulichen Horizont. Kühle Wirbel durchziehen die Hitze. Der Geruch von Lavendel und Stein ist fast greifbar und über allem vibriert das Schmettern der Zikaden wie eine gewaltige Glocke. 


(Mehrere weitere Kapitel sind angelegt) 

Patrick Josua Meier

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