Der Kormoran
Dieser winzige Balkon ist mein Lieblingsplatz. Vor mir breitet sich die Ebene mit dem See aus. Die Plattform ist gerade gross genug für Korbstuhl, Blechtischchen und ein paar Tontöpfe. Bis vor vier Jahren wucherten Hanfstauden daraus – inzwischen sind es Küchenkräuter. Jeden Morgen sitze ich da und beobachte den Tagesanbruch. Die Zeit steht still und der Dunstschleier über dem See erinnert an die Momentaufnahme einer Fensterscheibe, die in Mehl fällt und zerbricht. Schliesslich kriecht die Sonne über den Hügel und scheint wie in ein grosses Zimmer. Während der Dunst vergeht, taucht im Schilf – exakt zwischen Basilikum und Estragon – der Stein des Kormorans auf. Wenn der schwarze Vogel kommt, ist er plötzlich da, durch einen Lidschlag hingezaubert. Mit erhobenem Schnabel sitzt er auf seinem Felsen, wendet von Zeit zu Zeit den Kopf oder ordnet die Flügel, wie es alte Männer auf der Parkbank mit ihrem Mantel tun. Doch seit Tagen starre ich vergeblich zum Stein hinüber. Er bleibt verwaist. Nur das knöcherne Wetzen der Schilfrohre im Wind dringt bis hierher.
In der Küche hinter mir stottert die Kaffeemaschine. Jasmin ist aufgestanden. Vor vier Jahren habe ich mich in sie verliebt, und da sie gerade eine Wohnung suchte, ist die junge Studentin bei mir eingezogen. Das hatte Vorteile: Jasmin ist eine glänzende Köchin, duftet nach Sehnsucht und hat einen Körper wie Marzipan. Ausserdem hat Jasmin einen guten Einfluss auf mich – immerhin habe ich der Umstellung der Balkonkulturen zugestimmt. Zudem bin ich Frühaufsteher geworden.
Jasmin ist brillant. Ihr Jurastudium hat sie mit summa cum laude abgeschlossen, hat sofort eine Anstellung gefunden und ist rasch aufgestiegen in der Firma. Inzwischen ist ihr Kleiderschrank zum Bersten voll. Und erst die vielen Schuhe! Hochhackige und flache, bunte und schlichte und für jeden Anlass ein besonderes Paar. Jasmin hat Geschmack und sie weiss, was ihr steht. Und nicht nur das, sie hat auch einen grünen Daumen. Du meine Güte, was so alles in der kleinen Wohnung spriesst – man glaubt es kaum. Die beiden Zimmer sind ein richtiger Dschungel geworden. Abends geht Jasmin mit Giesskanne und Sprüher umher und schenkt jeder einzelnen Pflanze Aufmerksamkeit. Durchs Blattwerk beobachte ich, wie ihre Augen hinter dem Wimpernkäfig auf und ab tasten und wie ihre Lippen sich leise dazu bewegen.
Vielleicht hätten mir die rötlichen Sommersprossen auf Jasmins weissem Näschen, die so sehr an die schöne Tarnung einer Raubkatze erinnern, Warnung sein sollen. Neben Jasmin und ihren Pflanzen muss alles andere klein sein. Mein Bier hat kaum Platz auf dem Balkontischchen und im Badezimmer haben Flacons, Döschen und Stifte das Spiegelschränklein erobert und meine Zahnbürste auf den Topfrand einer Palme verbannt. Was soll’s, ich brauche nicht viel. Zwei Polo-Shirts in einer Papiertüte unter dem Bett und täglich ein Bier und eine Pizza ist gut genug für mich. Mir soll keiner kommen!
«Was tust du heute?», schneidet Jasmins helle Stimme das Stottern der Kaffeemaschine entzwei. Ihr schöner Kopf schwebt auf eckigen Schultern und der rote Mund ist wie eine verschlossene Tür, gegen die sich jemand von innen stemmt. Ich frage mich, was sie will. Und die Frage muss mir im Gesicht stehen, denn Jasmin platzt heraus: «Ist dir denn nicht klar, dass du endlich etwas tun musst?» Sie macht geräuschvolle Atemzüge und blickt trotzig in die Ferne hinter mir. Dann packt sie ihre Aktentasche, presst «ich muss» hervor und stöckelt davon.
Mit tut es weh, sie so unglücklich gehen zu sehen und rufe ihr nach: «Musst du heute wieder länger arbeiten, Schatz?»
Plötzlich steht sie wieder da. Die Fäuste in die Seiten gestemmt und mit glühenden Sommersprossen, als hätte ich in einen Kohlegrill geblasen. «Der Herr sitzt den ganzen Tag herum», zischt sie, «nichts interessiert ihn, ausser...» – hier hebt sie den Finger und wackelt mit dem Kopf – «...wann die Amme wieder nach Hause kommt!»
Sie mustert mich wie von Sensoren gesteuert und ich nehme eine Veränderung an ihr wahr, kann aber nicht sagen was es ist.
«Du kommst mich teuer zu stehen, mein Lieber», sagt sie und flüstert: «Weshalb vergeude ich eigentlich meine Zeit mit dir?» Dann verschwindet sie und die Türe knallt.
Auch heute ist der Kormoran nicht gekommen. Überhaupt ist der See den ganzen Tag über still geblieben. Es dämmert und am anderen Ufer rauscht Feierabendverkehr. Auf den Balkons über und unter mir murmeln Stimmen. Der Geruch von Gegrilltem weht vorüber. Da fällt mir ein, was heute an Jasmin anders war: sie trägt ein neues Parfum. Pünktlich um halb neun verschwinden die Balkongeräusche. Türen und Fenster klappern und dann flackert bis Mitternacht blaues Licht in den Wohnzimmern.
Ich habe über Jasmins Worte nachgedacht. Sie hat recht. Nichts interessiert mich, nichts was für sie von Bedeutung wäre. Ich sitze nun mal lieber hier in der Stille. Aber teuer komme ich sie wirklich nicht zu stehen. Ein Bier und eine Pizza täglich sind nicht zuviel verlangt für eine – zugegeben selten gewordene – Liebesnacht. Und dass sie ihre Zeit mit mir vergeude, kann sie auch nicht behaupten, sie macht ohnehin was sie will.
Inzwischen ist das Seeufer eine Goldkette mit einer grossen Mondperle daran. Manchmal kommt mir der See wie eine Diva vor, unterwachsen von reizbaren Nerven, die in ein dunkles Herz münden. Nach Lust und Laune wechselt die verwöhnte Frau ihr Kleid. Am Mittag befiehlt sie den Wolken blau zu sein und am Abend rot. Morgens ist ihr Himmelbett geschlossen. Wehe man stört. Einmal habe ich den Kormoran in den Schleier stürzen sehn und aus den Ringen wurde bald ein Sturm. Doch das liess den Vogel kalt. Gelassen schluckte er seinen Fisch und spreizte die Flügel zum Trocknen.
Irgendwo habe ich gelesen, dass es kaum mehr Fische im See gibt, weil die Wasserpflanzen ihnen die Luft wegfressen. Kann es sein, dass der Kormoran deswegen weggezogen ist? – Möglich wär’s ja.
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