Der weisse Kaminfeger
1
Etwas hatte Laurence schon früh gelernt: Was immer sie wollte, sie bekam es. Wenn sie einen Raum betrat, fühlte sie sofort die verstohlenen Blicke und versteckte sich hinter einer Gleichgültigkeitsmine. Obschon sie das nervte, empfand sie keine Abneigung gegen die Anderen, eher Mitleid. Ihnen hatte das Schicksal nichts von dem gegeben was sie besass.
Laurence war jung, schön und hungring. Kein Buffet war ihr weitläufig, kein Frittenteller gross genug. Sie liebte es zu erwähnen, dass sie ganze Familien von Schokoladehasen ausrotte und Schwarzwäldertorte zum Frühstück bezwang. Sie nannte ihren kleinen Hintern «Elefantenarsch» und genoss den anbrandenden Protest.
Um der Mutter zu gefallen, studierte sie Mode-Design, und um dem Vater zu gefallen, sprach sie von beruflichen Zielen, die sie aus eigener Kraft erreichen wolle. Doch Laurence war eine ungeschickte Näherin, ihre Kollektionen phantasielos. Dennoch erhielt sie gute Noten. Wenn der Professor ihr das Zeugnis überreichte, sah sie dem Mann in die Augen, legte lächend den Kopf zurück und machte beim Weggehen etwas grössere Schritte. Sie hatte keine Mühe vor anderen nackt dazustehen. Als privates Aktmodell verdiente sie sich ein ordentliches Zubrot, begann in Künstlerkreisten zu verkehren und schwamm bald im Teich der Boheme wie ein Koi-Fisch unter Kröten.
Laurence gierte nach allem was sich warm und gut anfühlte, nach allem, was dieses gewisse Summen im Bauch erzeugte. Wenn ein Mann ihr gefiel, strich sie ihr Haar aus dem Gesicht und liess sich von ihm Feuer geben. Mal gab sie das Kind, mal die Dame, mal den Vamp. Instinktiv verwandelte sie sich in den Köder, der fing was sie gerade brauchte: Komplimente, Champagner, Riesencrevetten und mehr. Wenn ihr etwas nicht gefiel, sah sie zur Seite und tippte mit nervösem Zeigefinger unter die Spitze ihres Kinns. Unangenehme Fragen beantwortete sie mit vorwurfsvollem Schweigen, während ihre geschlossenen Lippen leise Zuckungen vollführten, als hingen sie an den Fäden eines ungeduldigen Puppenspielers.
Es gab Tage, an denen Laurence sich hässlich fühlte, nutzlos und leer. Keine der bewährten Zuwendungen konnte dieses Gefühl vertreiben. Sie fragte sich, was andere an ihr sahen und suchte es im Innendeckel der Puderdose, in Autoscheiben, Schaufenstern und in den Toilettenspiegeln der Partys, in denen sie sich treiben liess zu rhythmischen Klängen und kalt zuckendem Licht. Einmal hatte sie sich – um das Glück zu erzwingen – einem Kerl mit schnellem Auto hingegeben. Im Hotel hatte er ohne Umschweife die Suite genommen und als es vorbei und er eingeschlafen war, zog sie sich an und ging fort. Mit der Nasenspitze in der Luft – damit die Tränen inwändig abflossen – stöckelte sie nach Hause, mit der selben Enge in der Brust, wie damals an ihrer Geburtstagsfeier, als sie das verkohlte Häuflein aufgelesen hatte, das Grossmutters Wollshawl gewesen war. Zwei Jungs hatten die Zugkraft des Erbstücks über einer Finnenkerze getestet.
Nach Abschluss ihres Studiums verliess Laurence die WG und bezog eine eigene Wohnung. Ein neues Lebensgefühl braucht Raum, fand sie. Die Miete liess sie sich vom Vater bezahlen. Erbvorbezug nannte er es und machte das strenge Gesicht, mit dem er seine Nachgiebigkeit zu überspielen pflegte.
Die Wohnung befand sich im ersten Stock eines langgezogenen Industriegebäudes. Roter Backstein, hohe Fenster, altmodische Holzöfen und ein grosser Balkon an einem modernen Stahlgerüst. Im Parterre des Hauses wurde noch immer Kaugummi hergestellt, mit schwirrenden und stampfenden Maschinen, die an die Organe eines Urtiers erinnerten, das verzweifelt seinen letzten Laich gebiert. Am Ende des Fabrikraums stand ein Labor mit grossen Bottichen, davor die Produktionsstrasse und ganz vorne, bei der Tür, hantierten ältere Damen in weissen Schürzen, die den bunten Wurf in Kartons abpackten. Die Rohstoffe lagerten im Heizungsraum auf maroden Gestellen: Kautschuk, Bindemittel, Zuckersäcke und Kanister mit Lebensmittelfarbstoffen. Wenn die Maschinen rumorten, lag süsslicher Staub in der Luft und an regnerischen Tagen knackten die Schuhsohlen auf der Treppe.
Laurence steckte ihre Nase in die duftende Kugel des Thymianbuschs, den ein Bekannter ihr zur Einstandsparty geschenkt hatte. Plötzlich war wieder Südfrankreich da, der erste Bikini und sonnenbraune Füsse mit rotem Nagellack. Sie malte sich aus, wie sie Pflanzen anschaffte: einen Feigenstock, einen Olivenbaum, Ginster, Lavendel, Wacholder, Sanddorn und ganz viel Rosmarin. Ihr Balkon würde Südfrankreich sein, in das sie sich hinein legen würde mit nichts an, als einem Strohhut und sie würde tiefe Atemzüge nehmen und sich erinnern. Das nahm sie sich vor, aber dann klingelte das Handy und sie vergass es wieder.
2
Als Luc aus dem Lieferwagen stieg, schallte ihm das Geräusch der Kaugummimaschine entgegen. Der Besitzer – ein dürres Männlein mit Nickelbrille und Streifenhemd – kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Bring mir Glück, schienen seine wässrigen Augen zu flehen und sein Mund sagte:
– Hier, der Schlüssel zum Heizungsraum, den Weg aufs Dach kennst du ja, und mache mir ja nichts kaputt, junger Mann.
Luc lächelte und der Alte Mann lächelte auch.
Ganz in Schwarz und mit goldener Gürtelschnalle, stellte Luc für die Menschen eine Hoffnung dar. Hoffnung für den Jungen mit dem sterbenden Hund auf den Knien, für die Lehrerin, die den minderjährigen Schüler liebt, für den verschuldeten Opa ohne Einkommen. Lächeln war seine Art ihnen zu begegnen und sie im Glauben zu bestärken, dass alles gut werde.
Mit aufgerolltem Stossbesen an der Schulter stieg Luc die Treppe hoch. Als er in den ersten Stock kam, staunte er. Beim letzten Mal hatte hier eine überfüllte Garderobe gestanden, umvölkert von buntem Spielzeug und schmutzigen Gummistiefeln. Jetzt war alles leer, es roch nach Parfum und neben der Tür hing ein Bild, auf dem junge Frauen in luftigen Kleidern barfuss einen Strand entlang gingen.
3
Laurence hatte sich gerade den ersten Kaffee gemacht, als es klopfte. Sie hüllte sich in ihren seidenen Morgenmantel und als sie öffnete, erschrak sie. Der schwarze Mann schien den ganzen Türrahmen auszufüllen.
– Ich komme wegen der Öfen, nur kontrollieren, es dauert nicht lange, sagte er.
Laurence wich seinem Blick aus.
– Muss das sein? Es funktioniert doch alles, sagte sie.
– Es muss sein.
– Jetzt?
– Jetzt.
Sie trat zur Seite und als Luc vorbei ging, bewegte sich der flaumige Saum ihres Morgenmantels.
– Darf ich hier beginnen? Er deutete auf das Wohnzimmer.
Laurence nickte.
Das Zimmer war leer bis auf einen Lesesessel mit Lampe und einem niederen Gestell mit ein paar Büchern und umgekippten Stapeln Modezeitschriften darauf.
– Du bist die erste Bewohnerin, die sich nicht wegen Unordnung entschuldigt, sagte Luc und machte sich am Ofen zu schaffen.
– Wie bitte? Dass der Kaminfeger sie duzte, störte Laurence.
– Wer wenig besitzt, fuhr er fort und zwinkerte ihr zu, behält den Überblick und muss am Ende wenig loslassen.
– Ich brauche nicht viel. Raum ist mit wichtiger, entgegnete Laurence und staunte nicht schlecht, als Luc ein Stetoskop hervor holte und ans Ofenrohr hielt.
– Mal hören, ob hier noch Raum genug drin ist, sagte er und klopfte gegen die Röhre.
– Genug?, fragte sie.
– Genug, bestätigte Luc.
– Doktor Asche, sagte Laurence etwas spöttisch.
Luc wandte sich ihr zu.
– Weisst du, dass früher kleine Kinder die Kamine gereinigt haben? Der Meister liess sie am Seil den Schlot hinunter, damit sie den Unrat wegputzten.
– Ach.
– Ja, Russ, Wespennester, tote Tiere und solches Zeug, sagte Luc bedeutungsvoll.
– Da hast du ja Glück, sagte Laurence.
– Ich liebe meine Arbeit, wenn es das ist, was du meinst.
Sie wusste nicht genau, was sie gemeint hatte und schwieg.
Luc lachte:
– Es gibt kein Glück ohne Arbeit, jeder günstigen Fügung geht harte Arbeit voraus.
Laurence setzte sich in ihren Sessel und betrachtete Lucs Körper, der langsam und sicher seine Arbeit tat.
– Und wie steht es mit dir?, sagte er plötzlich.
– Was?
– Liebst du deine Arbeit?
Sie schwieg und blätterte mechanisch in einer Modezeitschrift. Er verliess den Raum, um die anderen Öfen in der Wohnung zu kontrollieren.
– Willst du auch einen Kaffee?, rief sie und legte die Zeitschrift weg.
– Später gern, kam es zurück.
Laurence ging in die Küche und liess einen Kapsel-Kaffee einlaufen. Lucs Klopfgeräusche befeuerten ihre Vorstellung von den Kindern in der staubigen Engnis der Kamine. Sie schauderte.
– Na, was ist, liebst du deine Arbeit?
Laurence zuckte zusammen. Luc stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestellt.
– Ja..., klar. stotterte sie.
– Ich gehe dann mal nach unten in den Heizungsraum. Wenn ich fertig bin, komme ich gern zum Kaffee. Einverstanden?
Sie nickte.
4
Laurence zündete eine Zigarette an. Plötzlich musste sie dringend zur Toilette und legte den Morgenmantel ab. Normalerweise litt sie an Verstopfung. Jetzt trat das Gegenteil ein. Dieser Kaminfeger war ein sonderbarer Kauz. Es interessierte ihn, ob sie ihre Arbeit liebte. Er schien seinen Job zu lieben, was wohl nötig sein musste bei solch einer unqualifizierten Arbeit, Stetoskop hin oder her. Sie stellte sich unter die Dusche und beobachtete, wie das Wasser an ihr herunterrann. Mode-Kollektionen entwerfen, Stoffe betasten, an Schnittmustern rumbasteln, Aktmodell stehen, abchillen an Parties und gelegentlich Beischlaf. Das war ihr Leben. Und liebte sie es? Zum Teufel, was hatte dieser Kaminfeger ihr bloss für einen Floh ins Ohr gesetzt? Etwas an ihm war anders. Vielleicht die Tatsache, dass er sie nicht anstarrte? Das Wasser umspülte ihre Füsse und verschwand im Gulli. Sie hüllte sich in den Frottiermantel, ging in die Küche und stellte die Tassen bereit. Eine für Luc, eine für sich. Was machte er eigentlich dort unten im Heizungsraum?
Das Handy klingelte.
– Hallo Paps. ...Ach, es geht. ...Nein, nichts Besonderes. Der Kaminfeger ist da. ...Mama wieder zur Kur? ...Nein, noch nichts. ...Mein Gott, du übertreibst, der Stellenmarkt ist nun mal ausgetrocknet. ...Nein, das ist keine Ausrede. ...Komm schon, Papilein, du selbst hast gesagt Erbvorbezug. ...Eben, siehst du. ...Ja, ich verstehe, du machst dir Sorgen. ...Jetzt hör auf damit, man kann gar nicht nichts tun. Etwas tut man immer. Das Wichtigste ist, dass man liebt was man tut. ...Vonwegen Philosophiescheiss! Stammt von einem grundsoliden Handwerker, würde dir gefallen, der Typ. ...Bitte Papa, hör auf zu lachen. ...Spinnst Du? Nein, ich bin nicht verliebt. Jetzt bringst du mich zum Lachen. Ha-ha. ...Ja, in Ordnung, ich lasse nicht locker. ...Ja, versprochen, also mache Dir keine Gedanken mehr. ...Ja, ich hab’ dich auch lieb, bis dann, tschüss.
– Danke für den grundsoliden Handwerker.
Laurence fuhr herum, Luc stand hinter ihr.
– Entschuldige, die Wohnungstür war offen, wollte dich nicht erschrecken.
– Wie schaust Du denn aus?
Luc war über und über mit weissem Staub bedeckt.
– Ein Regal im Heizungsraum ist gebrochen. Das Ding war völlig morsch, einer der Säcke ist auf mich gefallen und geplatzt. So ein Mist.
Laurence lachte und klatschte in die Hände.
– Das nenne ich Glück: ein weisser Kaminfeger!
Sie befeuchtete ihren Zeigefinger und nahm eine Probe von seiner Schulter.
– Und süss dazu.
Sie gingen zusammen auf den Balkon und klopften den Zucker aus seinen Kleidern.
– Weisst du, ernsthaft betrieben kann auch Müssiggang Arbeit sein, sagte Luc, deshalb muss man ihm mit Freude frönen, ohne schlechtes Gewissen.
– Dein Ernst?
– Klar.
– Jetzt hätte mein Vater keinen Spass mehr an Dir. Kaffee?
– Gern.
Zurück in der Küche betätigte Laurence die Kaffeemaschine.
– Ich freue mich jeden Tag darüber, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an.
– Über die Maschine?
– Über den Müssiggang.
Luc zog die Brauen hoch und grinste skeptisch.
– Du glaubst mir nicht? Was weisst du schon!
– Glücksbringer treffen immer auf das Unglück, entgegnete Luc, sonst bräuchte es sie ja nicht.
Er machte eine ernste Mine. Das verunsicherte Laurence.
– Verschone mich mit deinem Aberglauben, sowas brauche ich nicht, sagte sie, ich weiss was ich will und ich kriege es auch.
– Ja, aber nicht wirklich verdient, deshalb bedeutet es dir nichts.
Nach einer Pause sagte sie:
– Glaubst Du, dass ich unglücklich bin?
Luc trank seinen Kaffee aus und lächelte.
– Ich muss dann nochmals nach unten in den Heizungsraum, aufräumen, danke für den Kaffee.
Im Flur drehte er sich nochmals um und sagte:
– Diese Kinder wurden von ihren Eltern an die Kaminkehrer verkauft und wenn sie nicht mehr in die Schlote passten, schickte man sie einfach fort, wo sie oft an Lungenkrankheiten starben.
Die beiden sahen sich wortlos an, dann zuckte Luc mit den Schultern und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
5
Laurence wusste nicht, wie lange sie im Flur gestanden hatte. Den Zeigefinger im Mund, sah sie sich nach den Zigaretten um. Da entdeckte sie am Boden das Stetoskop des Kaminfegers. Er hatte es vergessen. Sie setzte es auf und begann ihren Körper abzuhören. Zum ersten Mal vernahm sie, unter muschelhaftem Rauschen, ihr klopfendes Herz.
Während Laurence fasziniert in sich hineinhörte, barsten im Heizungsraum die Regale. Die Damen in den weissen Schürzen liefen hin und als sie die Tür aufrissen, qoll ihnen Staub entgegen, wie der Zaubernebel, in dem der Priester verschwindet. Unter Holzbalken, zwischen aufgeplatzten Säcken und verbeulten Kanistern, fand man, ganz mit Zuckerstaub bedeckt und sonderbar entstellt, einen menschlichen Körper.
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